Aufwachen! Regen prasselt auf das Fenster! Frühstücken! Und los! Der Regen lässt nach und hört schließlich auf. Ich nehme den Rucksack auf mich. Gefüllt mit…. Schokolade, schwarz, 81% Kakao und natürlich auch Wasser, Müsliriegel, ein Handtuch, Heftpflaster und eine Powerbank. Komoot ist meine Wanderführerin (wegen der weiblichen Stimme) und sie darf nicht verstummen. Los geht’s!

Bergauf in die Natur. Der diesige Morgen, es ist 10 Uhr, nimmt mich auf in seinen Dunst, der in den Bäumen hängt. Enge Wege, grüne Bäume, vom Regen gefüllte Furchen begleiten mich Schritt für Schritt. Regentropfen fallen von den Blättern auf meinen Kopf. Die klare Sicht verschwimmt. Die Brille ist nass und beschlagen. So spiegelt der Start meines Weges auch meine derzeitige Lebenssituation wider: unklar und verschwommen, alles andere als Klarheit.

Kein befestigter Weg, im Gras ist er nur leicht erkennbar, komme ich langsam voran. Nässe spüre ich allmählich an den Hosenbeinen. Aber die Natur um mich herum lässt mich die Nässe schnell vergessen. Ja, der Wald hilft uns, vieles, was uns belastet, loszulassen, zu vergessen. Der Wald ist eben ein guter Arzt.

Vogelgezwitscher begleitet mich. Die Musik der Natur. Ich stimme mit ein. Wir singen zusammen. Ja, die Musik befreit den Kopf von quälenden Gedanken. Dies werde ich noch später an der Hängebrücke erfahren. Aufwärts geht’s. Meter um Meter, Pfütze um Pfütze. Patsch! Wieder hineingetreten – wie im Leben. Immer wieder treten wir in Pfützen, dir wir eigentlich meiden wollen und trotzdem sind wir drin. Trotzdem haben wir das gesagt, was wir nicht sagen wollten. Wir können es nicht zurücknehmen, so wie wir nicht noch einmal den Schritt an der Pfütze vorbeigehen können, um alles rückgängig zu machen. Wir sind ja schließlich schon nass. C’est la vie.

Oben angekommen erst einmal Pause machen. Den besten Energiespender, die schwarze 81%ige Schokolade, genießen – mit allen Sinnen – und das Wasser ebenso. Schließlich bin ich auf dem Rothaarsteig, dem Weg der Sinne, angekommen. Niemand zu sehen! Weit und breit Ruhe. Nur die Musik der Natur. Mit mir selbst allein. Nachdenken. Ärgern. Trauern. Hoffen und Bitten. Ja, die Pause hat’s in sich. Bin ich ein guter Vater? Bin ich ein guter Ehemann? Die Antworten bleiben offen. Ich kann sie mir nicht selber geben. Also weiter geht’s!

Über den Rothaarsteig! Mit etwas schnellerem Schritt gehe ich durch die Natur. Der Weg ist nicht mehr so schmal wie der Weg bergauf. Es ist auch heller geworden. In mir auch? Vielleicht, denn ich fange an zu singen. Altbekannte Lieder aus der kirchlichen Jugendarbeit. Das Halleluja von Taizé. „Ihr seid das Licht in der Dunkelheit der Welt; ihr seid das Salz für die Erde. Denen, die suchen, macht hell den schweren Weg. Halleluja, Halleluja“ heißt es in einer Strophe. Ich muss weinen. Habe ich den Suchenden den Weg hell gemacht? Bin ich meinen Auftrag als Christ, also als Mensch, gerecht geworden? Dennoch, weiter geht’s! Der Blick nach vorn. Ändern kann ich nichts mehr. Wie eben mit der Pfütze. Ich bin im HIER und JETZT. Das Vergangene ist geschehen. Die Zukunft existiert noch nicht. Sie wird erst aus dem geboren, was ich heute mache – aus meinem Denken und Tun. Und die nächste Strophe des Liedes hilft mir dabei „Gehet nicht auf in den Sorgen dieser Welt; suchet zuerst Gottes Herrschaft. Und alles andere erhaltet ihr dazu! Halleluja, Halleluja“

Ich blicke nach vorn und sehe die Hängebrücke. Ich freue mich und gehe zügig auf sie zu. Behutsam setze ich meinen ersten Schritt auf die Brücke. Sie wird von starken, silberfarbenen Drahtseilen getragen. Sie müssen noch neu sein. Das beruhigt mich. Mein Sicherheitsgedanke bricht durch. Der, der mich oft an Handlungen gehindert hat, die ein Leben im HIER und JETZT manchmal erst jemanden leben lassen. Diesmal hat er nicht gesiegt. Diesen Gedanken habe ich ziehen lassen. Mit dem ersten Schritt auf der Hängebrücke spüre ich ein Schwingen unter mir. Mit jedem Schritt wird es stärker, nein besser gesagt fortgesetzt. Es entstehen Schwingungen. Musik sind Schwingungen. Es entsteht Musik. Ich mache Musik an. „Kuate lenno lenno mahote“ der indianische Erdungstanz. Ich tanze ihn mit den Schwingungen der Hängebrücke. Ein einmaliges Gefühl. Ich genieße es. Und dennoch endet alles irgendwann einmal, mag es noch so schön empfunden werden. Das kennen wir ja aus dem alltäglichen Leben. Ich gehe weiter!

50 Meter Abstand! Ein Schild weist darauf hin, wie ich mich bei der Begegnung mit einem Wisent zu verhalten habe. Ein Wisent ist im Grunde ein ganz ruhiges Tier. Es beobachtet alles und lebt so vor sich hin. Zwei dieser stolzen Tiere durfte ich begegnen. Das größte Landsäugetier Mitteleuropas und ich stehen uns gegenüber. Ganz ruhig bin ich und nehme vorsichtig das Smartphone hoch, um Fotos zu machen. Mit einer anderen Wanderin unterhalte ich mich nur im Flüsterton, um die Tiere ja nicht zu erschrecken. Sie lassen sich von uns nicht stören. Sie genießen den Tag. Ich auch! Ich bin dankbar, dass ich dieses erleben durfte. Glücklich gehe ich weiter.

Jetzt treffe ich mehr Menschen hier oben auf dem Rothaarsteig. Hier ein Hallo, dort ein kurzes Gespräch. Nette Menschen und immer ein Lächeln auf den Lippen. Ja, die Natur schafft Freude und Zufriedenheit. Waldbaden ist deshalb wohl auch hochaktuell in unseren Breiten. Aus Japan kommend, dort bekommen die Patienten sogar Waldbaden vom Arzt verschrieben, findet das Waldbaden auch in Westeuropa allmählich den Einzug – zwar nicht als eine von Krankenkassen unterstützte Therapie, dafür viel mehr als private Prävention. Ich sehe einen Hochsitz! Als Kind wäre ich sofort hingelaufen. Heute überlege ich, ob ich dahin gehen kann. Warum? Was ist heute anders? Ich gehe hin. Setze mich und genieße den Blick in die Natur.

Und weiter geht’s! Jetzt begleitet der Waldskulpturenweg den Rothaarsteig. Er verläuft von Bad Berleburg bis nach Schmallenberg. Mächtig ragt der Krummstab über den Weg. „Eine allzu große Macht stürzt über ihre eigene Masse“, mit diesem Satz von Martin Luther hat der Künstler die Skulptur betitelt. Man hat das Gefühl, dass diese Masse gleich auf einen einstürzen wird, wenn man darunter steht. Der Krummstab ist eine altägyptische Insigne. Er symbolisierte nicht nur die Herrschaft, also die Macht, sondern auch die Wiedergeburt und Regeneration. Wenn die Macht, die Herrschaft also zu groß wird, stürzt sie ein und muss sich dann so regenerieren. Ein schönes Bild des Künstlers.

Und gleich nebenan ist der Kyrill-Pfad. Am 17. und 18. Januar 2007 fegte der Orkan Kyrill über das Land und riss eine Unmenge an Bäume aus dem Boden. Ich betrete den Kyrill-Pfad. Alles ist so geblieben, wie es der Orkan hinterlassen hat. Über Planken, Treppen und Stege gehe ich den Weg. Hier und da liegt ein Baumstamm quer über dem schmalen Weg, der dann in wegesbreite durchgeschnitten ist. So komme ich durch, obwohl ich auch manchmal hätte darüber klettern können. Naja, ist schließlich ein deutscher Wanderweg. An manchen Stellen sind in den letzten Jahren die Sträucher rechts und links hochgewachsen. Sie bilden quasi Wände zu beiden Seiten hin. Wie in einer Felsspalte komme ich mir vor. Doch hier ist die Wand aus Bäumen und Sträuchern, nicht aus Stein. Von einem Aussichtspunkt schaue ich über die Landschaft. Bizarr sieht es aus. Bizarr sind die abgebrochenen stehen gebliebene Baumstämme. Wie eine verlassene Waldlandschaft. Und drumherum? Nach über 12 Jahren zugewachsen. Die Natur hilft sich eben selbst. Sie lebt weiter. Der Orkan hat etwas verändert, nämlich die Landschaft, und die Natur hat daraus etwas Neues gemacht. Nicht etwas Anderes, nein etwas Neues, dem Bestehenden einen neuen Glanz gegeben. Auch in unserem Leben kommen immer wieder Orkane auf, die scheinbar etwas zerstören, doch daraus kann und wird etwas Neues, oftmals etwas Besseres wachsen. Die Natur hat das Ereignis akzeptiert und daraus etwas Neues geschaffen. „Akzeptiere den Ist-Zustand und lenke deinen Fokus gleichzeitig auf das Neue.“ Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und kann so diesen Spruch, diese Weisheit, gut für mich aufnehmen.

Jetzt geht es auf das letzte Stück der Wanderung. Ich gehe nun nur noch bergab. Wer wandert, der weiß: bergab ist nicht einfach. Es geht in die Beine. Aber was soll’s. Los geht’s, wie schon so oft gesagt. Ab jetzt habe ich nur noch ausgebaute Wanderwege, manchmal sogar etwas geteert. Aber dennoch in wundervoller Umgebung. Viele Farne stehen am Rand und winken mir zu. Auch die Musik aus den Baumwipfeln begleitet mich immer noch. Komoot, meine Wanderführerin, zeigt mir, dass ich indessen schneller gehe. Und so liegt am Ende des Tages der Durchschnitt bei 5,2 km/h. Immer wieder reduziere ich die Geschwindigkeit. „Wer schneller vorwärtskommen möchte, der muss langsamer gehen“, sagt eine Weisheit. Und nur so kann ich die Schönheit der Umgebung wahrnehmen. Ich sehe einen kleinen Teich mit einer Gedenksäule. Hier sollen wohl einer Sage nach Altarsteine der heidnischen Sachsen zur ersten Jahrtausendwende gestanden haben. Die Gedenksäule ist eine Erinnerung an die Neugründung des Dorfes Latrop um 1740. Die Menschen waren dankbar für das Neue, das neue Latrop. Dankbarkeit für das, was man hat oder bekommt, ist eine Grundlage des Glücklichseins.

Ich bin dankbar für diese Wanderung, für diesen Weg über den Rothaarsteig, DEN WEG DER SINNE, den ich gehen durfte.